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f+h fördern und heben 10/2015

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AKTUELLES I INTERVIEW

AKTUELLES I INTERVIEW Realität braucht Visionen Gespräch mit Professor Michael ten Hompel über die Logistik und deren Zukunft Die Welt der Industrie und des Handels unterliegt einem stetigen Wandel, der letztlich nicht ohne Einfluss auf die Logistik bleibt. Wo aber liegen die zukünftigen Anforderungen an die Logistik? Welche Rolle spielt Industrie 4.0 und was hat es mit dem intelligenten Materialfluss auf sich? Fragen, hinter denen Visionen stecken müssen, will man die Zukunft der Logistik meistern. Mit Professor Michael ten Hompel stellte sich ein Visionär den Fragen der f+h-Redaktion. Der Wirtschaftsstandort Deutschland ist sehr stark exportorientiert und deutsche Unternehmen agieren entweder vom heimischen Standort aus oder unterhalten Produktions- und Logistikstandorte in vielen Teilen der Welt. Das schreit förmlich nach weltumspannenden IT-Lösungen und Lieferketten. Was bestimmt in diesem Kontext die Anforderungen an moderne Informationstechnologien? Weltumspannende IT-Lösungen und Lieferketten sind dank Internet und datentechnischer Vernetzung längst Realität. Aber es ist richtig, dass die Ansprüche an derartige Systeme steigen. Gerade bei internationalen Netzwerken ist es wichtig, sie flexibel zu halten, was in der Regel zu einem hohen Komplexitätsgrad führt. Ganz oben auf der Forderungsliste steht deshalb die Datenerfassung in Echtzeit, um Wertschöpfungsnetze effizient und sicher steuern zu können. Das hat sehr viel mit Basistechnologien und noch mehr mit Standardisierung zu tun. Ein weiterer, meiner Meinung nach entscheidender und trotzdem immer noch unterschätzter Aspekt ist die Datensicherheit und deren Management. Schließlich öffnet sich ein Unternehmen in gewisser Weise in den logistischen Netzwerken, da ja über etliche Tier-Stufen hinweg Netze aufgebaut und gemanagt werden müssen. Schaut man sich die Märkte und Branchen national und international an, so ragt der E-Commerce deutlich heraus und beeindruckt in vielen Branchen mit hohen Zuwachsraten. Wie wird sich dieses Segment aus Ihrer Sicht weiter entwickeln und was bedeutet das für Logistik und IT? Im vergangenen Jahr ist der E-Commerce- Sektor allein in Deutschland wieder um 14 Prozent gewachsen und für die kommenden Jahre werden ähnliche Steigerungsraten erwartet. Ja, der Bereich E-Commerce hat noch Potenzial und ist ein interessanter Markt auch für die Logistik und Intralogistik. Meiner Meinung nach adressiert der Same-Day-Delivery-Anspruch den Lebensmittelbereich besonders und wird stark mit dem Mobile Commerce verbunden sein, also der Bestellung per Smartphone. Im Mobile-Commerce-Segment wurden im vergangenen Jahr Wachstumsraten von 74 Prozent realisiert und interessanterweise hat dieser Markt in Deutschland ein Volumen von immerhin

INTERVIEW I AKTUELLES Multimedia Content Über diesen Link gelangen zum Video- Rundgang mit Professor Michael ten Hompel durch das Fraunhofer IML in Dortmund https://vimeo.com/141045894 8,4 Milliarden Euro. Für bemerkenswert halte ich in diesem Zusammenhang, dass die Philosophie von Industrie 4.0 in enger Verbindung zum Mobile Commerce steht. Die Europäische Industrie sollte dieses Geschäft nicht noch weiter an die amerikanische Softwareindustrie abgeben. Dass hieße seine Zukunft zu verschenken. Zum Thema Industrie 4.0 und Logistik. Welche Aussage ist Ihrer Meinung nach richtig: Logistik macht Industrie 4.0 erst möglich oder ohne Industrie 4.0 keine Logistik? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Zuerst sollte man sich erst einmal darüber im Klaren sein, was Logistik eigentlich ist. Logistik bewegt Dinge in Industrie und Handel, zum Teil sogar im privaten Bereich. Egal, ob es eine Palette im Distributionszentrum ist, ein Werkstückträger in der Produktion oder einen Eierkarton im Handel. Wenn wir diese, zugegebener Maßen einfache Erklärung einmal so stehen lassen, dann ist es die Aufgabe der Logistik, diese Bewegungen effizient und wirtschaftlich zu bestreiten. Ich würde also sagen: Ohne Logistik keine Industrie 4.0. In Erweiterung der Antwort würde ich nahezu zwangsläufig Beispiele wie das Internet der Dinge oder sich selbstorganisierende Materialflusssysteme nennen, die jetzt langsam Wirklichkeit werden. Sie fordern die Informationslogistik als eigenständige Disziplin in der universitären Ausbildung. Ist das nur der wachsenden Bedeutung der IT in der Logistik geschuldet? Ich wiederhole es noch einmal: Ohne Logistik keine Industrie 4.0. Das mag einfach klingen, aber es zwingt uns dazu, Grundlagenforschung in der Logistik zu betreiben, die Logistik auch als Wissenschaftsdisziplin weiterzuentwickeln und die Ausbildung auf noch breitere Füße stellen. Logistik ist interdisziplinär – auch als Wissenschaftsdisziplin – und da spielt die IT natürlich eine große Rolle. Wir versuchen dieser Entwicklung hier in Dortmund Rechnung zu tragen indem wir am LogistikCampus gemeinsam mit den Lehrstühlen Wirtschaft, Informatik, Statistik und Mathematik Professuren akquirieren. Wir müssen aber auch die Logistikbildung im universitären Bereich ausbauen, um den Anforderungen der Industrie und des Handels in Zukunft besser entsprechen zu können. Das verlangt von den Absolventen zum Beispiel Kenntnisse in Organisation und Informatik. Ich denke zurzeit intensiv darüber nach, wie mein Lehrstuhl, der ja ein klassischer Maschinenbau-Lehrstuhl ist, in Zukunft aussehen wird. Ein zunehmendes wichtiger werdendes Thema in Bezug auf internationale Lieferketten ist die Datensicherheit. Jüngste Beispiele aus der Politik zeigen, dass es eine absolute Sicherheit scheinbar nicht gibt. Ist der Cyber-Angriff auf die Supply Chain Utopie und lässt sich das Ausspionieren von Netzwerkstrukturen in der Logistik ausschließen? Ich habe kürzlich noch gelesen, dass die Telekom von 400 000 Angriffen pro Tag ausgeht. Das ist eine unglaubliche Zahl. Natürlich sind unsere logistischen Systeme wie alle anderen Industriesysteme gefährdet. Das ist nicht hinnehmbar und wir beschäftigen uns bereits länger sehr intensiv mit dem Thema. Die Fraunhofer-Gesellschaft hat auf der diesjährigen Cebit mit dem Industrial Data Space ein Eckpunkte-Papier vorgestellt in dem die digitale Souveränität und die Datensicherheit zu den wichtigsten Inhalten gehören. So werden im Industrial Data Space nur dann Daten zwischen zertifizierten Partnern sicher ausgetauscht, wenn sie tatsächlich vom Datennutzer benötigt werden. Ich behaupte: Wer Datensicherheit garantieren kann, wird das Geschäft machen. f+h Herausgeber Reiner Wesselowski im Gespräch mit Prof. Dr. Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik in Dortmund Wo sieht der Visionär ten Hompel die Logistik und IT in den nächsten Jahren? Ich sehe, dass sich die Logistik als Führungsfunktion zunehmend etabliert und glaube, der Trend setzt sich fort. Die Logistik kann und wird in Zukunft als führende Instanz bei der Organisation und Planung eine immer stärkere Rolle spielen und insofern sehe ich sehr optimistisch in die Zukunft. Technologisch gehe ich davon aus, dass in nicht allzu ferner Zeit intelligente Regale oder Behälter und natürlich autonome Fahrzeuge das Bild in der Intralogistik prägen werden. Wir forschen am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik daran, Zukunftsanforderungen besser zu bewältigen und Probleme zu lösen. So haben wir auf der letzten Cemat in Hannover eine praxistaugliche Drohne aus dem 3D-Drucker vorgestellt Ohne Logistik keine Industrie 4.0. Dahinter steht nicht zuletzt auch der Anspruch, die Logistik als Wissenschafts disziplin weiter zu entwickeln. Und da spielt die IT natürlich eine wichtige Rolle und ein erstaunlich großes Interesse auf Seiten der Besucher registriert. Wir betreiben am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik Projekte, die helfen Zukunftsanforderungen zu bewältigen und die Drohne zählt inzwischen auch dazu. Vielen Dank für das Gespräch Fotos: Fraunhofer IML, Fotolia, Marie Krueger/ Bearbeitung: VFV Layout f+h 10/2015 13