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f+h fördern und heben 4/2015

f+h fördern und heben 4/2015

AUS DER FORSCHUNG

AUS DER FORSCHUNG Puzzlebau statt Karussellfahrt? Untersuchung neuer Möglichkeiten zur Speicherung von Flugpassagiergepäck Altan Yalcin, Kai-Oliver Schocke, Achim Koberstein Das Verkehrsmittel Flugzeug ist für Geschäftsleute und für Touristen bei vielen internationalen Strecken fast alternativlos. Laut der IATA werden im Jahr 2034 rund 7,3 Milliarden Passagiere weltweit mit dem Flugzeug unterwegs sein – doppelt so viele wie 2014. Rapide steigende Passagierzahlen und der damit einhergehende Anstieg des Passagiergepäckvolumens, stellen Flughäfen vor signifikante logistische Probleme. Flughäfen müssen große Gepäckmengen in geringen Zeitspannen bewältigen, um konkurrenzfähig zu bleiben. Daraus resultiert der beständige Druck, bestehende Prozesse weiter zu optimieren und ggf. neue Technologien zu implementieren. Ein Frühgepäckspeicher ist ein integriertes Teilsystem der Gepäckförderanlage, um Frühgepäck und Transfergepäck temporär zu lagern. Frühgepäckspeicher ermöglichen flexiblere Check-in-Zeiten, da Passagiere vor dem eigentlichen Beginn des Check-ins, meist am Vorabend, ihr Gepäck aufgeben können. Dies bringt mehrere Vorteile mit sich. So wird durch den Frühgepäckspeicher einerseits eine Komfortfunktion für Passagiere angeboten. Andererseits führt diese Maßnahme zu einer Glättung des allgemeinen Andrangs am Check-in. Darüber hinaus wird der Frühgepäckspeicher, entgegen seiner Bezeichnung, als Speicherort für Transfergepäck genutzt. Dies ist der Fall, wenn der Anschlussflug mit großem Zeitabstand folgt und das Gepäck noch nicht verladen werden kann [1], S. 4. Durch den Frühgepäckspeicher wird die Gesamtzahl an abgegebenen Gepäckstücken in einer gewissen Zeitspanne reduziert. Die Abgabe der Gepäckstücke wird so über die Zeit verteilt. Infolgedessen kommt es zu einer leichten Entlastung der Gepäckförderanlage in Peak-Zeiten. Ebenso werden Gepäckstücke vor ihrer Einlagerung durch die Sicherheitskontrollen geführt. Dies führt dazu, dass abgerufenes Gepäck aus dem Frühgepäckspeicher direkt zum Flugzeug transportiert werden kann und so die Sicherheitskontrollen für Gepäckstücke, die kurz vor Ende des Check-ins aufgegeben werden, zur Verfügung stehen [2]. Es gibt verschiedene Umsetzungen für das Layout und die Funktionsweise des Frühgepäckspeichers (s. Bild 01 S. 12). Die Unterscheidung findet klassischerweise in statische und dynamische Frühgepäckspeicher sowie in zentrale und dezentrale Speicher statt. Allgemein gilt, dass größere Flughäfen hochkomplexe Aufbewahrungsvorrichtungen benötigen, während kleinere Flughäfen die Aufbewahrung manuell ausführen oder gar nicht im Besitz eines Frühgepäckspeichers sind [3], S. 59. Rastloses und ruhendes Gepäck Dynamische Speichersysteme sind Fördersysteme, die in einer Endlosschleife aus Gurtförderern betrieben werden. Diese Altan Yalcin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Fachgruppe Logistik an der Frankfurt University of Applied Sciences Prof. Dr. Kai-Oliver Schocke ist Professor der Fachgruppe Logistik an der Frankfurt University of Applied Sciences Prof. Dr. Achim Koberstein ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Europa Universität Viadrina 10 f+h 4/2015

AUS DER FORSCHUNG besitzen oft ein mäandrierendes Layout. Die kontinuierlich angetriebenen Förderer sind platz-, kosten- und wartungsintensiv. Ein weiterer Nachteil besteht darin, dass einzelne Gepäckstücke nicht gezielt abgerufen werden können. Das System kann auf dieser endlosen Förderstrecke Gepäck nur an bestimmten Ausschleusstellen entnehmen. Falls sich ein benötigtes Gepäckstück in einem Abschnitt ohne Ausschleusstelle befindet, gestaltet sich dieser Vorgang bei entsprechender Größe der Anlage als zeitintensiv [4], S. 1f. Statische Frühgepäckspeicher sind in vielen verschiedenen Ausführungen anzutreffen. Das entscheidende Hauptmerkmal besteht in der ruhenden Lagerung. Am Flughafen Montréal-Trudeau z. B. wird jedes Gepäckstück auf einem separaten Platz gelagert [5], S. 68. Dabei werden die Gepäckstücke von Destination Coded Vehicles an die Lagerstellen transportiert und auf den Lagerplatz übergeben. Der Lagerplatz besteht im Grunde aus einem Taktförderer, der Platz für ein Gepäckstück bietet. Sobald das Gepäckstück abgerufen wird, transportiert der Taktförderer dieses zurück auf ein bereitstehendes Destination Coded Vehicle. Des Weiteren existieren Frühgepäckspeicher in Form eines Hochregallagers. Jedes Gepäckstück bekommt einen freien Lagerplatz zugewiesen und dementsprechend geschieht ein Transport, u. a. mit Vertikalförderern, auf den ermittelten Lagerplatz. Die Lagerung im Hochregallager ist platzeffizient und ermöglicht einen individuellen Zugriff auf die Gepäckstücke. Die Lagerung kann je nach System mit oder ohne Behälter stattfinden. Der Grenzdurchsatz dieser Systeme ist jedoch durch die Kapazität der Regal bediengeräte beschränkt [3], S. 62f. Der Einsatz von gitterbasierten Lagersystemen als hybride Lösung könnte die Vorteile beider Speicherarten vereinen. Neuartige Lösungen: Gitterbasierte Systeme Danksagung Diese Studie wurde im Rahmen von Hessen Modellprojekte (Projektnummern HA 405/13-44, HA 422/14-32) aus Mitteln der Loewe – Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlichökonomischer Exzellenz, Förderlinie 3: KMU-Verbundvorhaben gefördert. An dieser Stelle möchten wir der Fraport AG für die Bereitstellung der Daten der Gepäckförderanlage des Flughafens Frankfurt danken. Des Weiteren danken wir der Simplan AG, dass sie uns die Klassenbibliothek Fluidsim zur Verfügung gestellt hat. Gitterbasierte Systeme bestehen aus vielen aneinandergrenzenden, gleichgroßen rechteckigen Zellen, die ein physisches Fördersystem in logische Partitionen diskretisieren [2]. Im optimalen Fall sind die Zellen und die bewegten Transporteinheiten (z. B. Roboter, Fördermodul, FTF) kongruent zueinander (s. Bild 02 S. 13). Die zu transportierenden Einheiten können entweder stationär oder mobil sein. Im ersten Fall handelt es sich um ortsfeste Fördermodule, die das Transportgut zur benachbarten Zelle bringen. Im anderen Fall sind die Einheiten ortsungebunden, wie im Falle eines fahrerlosen Transportfahrzeugs oder Roboters, die das Transportgut durch das System tragen. In beiden Fällen sind die Einheiten fähig, translatorische Bewegungen in die vier kardinalen Richtungen auszuführen. Somit ist es im Ex tremfall möglich, eine Systemfläche ähnlich wie bei einem 15-Puzzle- Spiel zu befüllen und Einheiten aus der Fläche zu schleusen. Es existieren bereits einige intralogistische Lösungen, die mit diesem Paradigma vereinbar sind. Der Flexconveyor, entwickelt vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und der Gebhardt Fördertechnik GmbH, Sinsheim, ist ein Fördermodul mit eigener Steuerung. Kombiniert man mehrere dieser Module miteinander, lässt sich eine Förderstrecke zum Transport oder eine Förderfläche zur Sortierung [6] oder Pufferung [7] von Material zusammensetzen. Eine andere Lösung liefert z. B. Kiva-Systems, das Amazon gehört. Dabei kommen Lagerroboter in Distributionszentren zum Einsatz, die die Ware zum Mann bringen. Die Lagerfläche ist gitter artig aufgebaut und in verschiedene Lagerzonen sowie Fahrgassen für die Roboter aufgeteilt [8]. Eine weitere Lösung ist das System Fluide Logistik, das die Benjamin Systems GmbH, Roßdorf, derzeit entwickelt. Dabei handelt es sich um eine Mischform aus Fördertechnik und fahrerlosem Transportsystem. Mithilfe eines elektromagnetischen Antriebs soll das Transportgut dann auf der freien Fläche bewegt werden, ähnlich wie bei einer Münze auf dem Tisch, die von unten mit einem Magneten bewegt wird. Ohne Dirigenten entsteht Chaos Die Steuerung automatisierter Fördertechnik und FTS geschieht entweder zentral oder dezentral. In einem zentralen Ansatz werden alle Entscheidungen von einem zentralen Rechner getroffen, der über alle Informationen verfügt. Das System kann Bereiche im System reservieren, um kollisionsfreie Hochgeschwindigkeitsbewegungen auszuführen. Systeme mit einer dezentralen Steuerung hingegen besitzen keinen zentralen Rechner. Alle Entscheidungen werden von dezentralen Einheiten selbstständig getroffen, was eine robustere Alternative verspricht, da sobald eine Einheit gestört ist, die verbleibenden Einheiten hiervon nicht betroffen sind und der Verlust f+h 4/2015 11