PERSPEKTIVEN TITELSTORY „WIR BENÖTIGEN IN DER LOGISTIK EIN ANDERES VERSTÄNDNIS FÜR DEN UMGANG MIT DATEN“ Die Planung von Lager- und Materialflusssystemen ist vielfach eine komplexe Aufgabe. Als Grundlage für die Systemauslegung dienen im Allgemeinen Daten aus der Vergangenheit. Ist dieses Vorgehen noch zeitgemäß? Markus Klug, Senior Digital Engineer bei SSI Schäfer, bezieht im Gespräch mit Chefredakteur Winfried Bauer eine eindeutige Position. Entwicklungen in der Intralogistik werden von den Systemanbietern vor dem Hintergrund getätigt, dass der Anlagenbetreiber die Kundenerwartungen noch besser erfüllen kann. Die Entwicklung findet vielfach auf Basis von Daten aus der Vergangenheit statt. Ist dies noch der richtige Ansatz? Markus Klug: Ganz eindeutig: Nein! Historische Daten von der Zeit vor der Corona-Pandemie sind faktisch ungültig geworden. Die Daten, die wir während der Pandemie sammeln, werden unter Umständen demnächst ebenfalls ihre Aussagekraft verlieren. Hinzu kommt, dass aufgrund derzeit langer Beschaffungszeiten, fehlender Transportkapazitäten oder langer Transportzeiten vielfach ein wiederentdecktes großes Sicherheitsbewusstsein in Sachen Lieferfähigkeit an den Tag gelegt wird. In letzter Konsequenz mündet dies in die Überdimensionierung von Lager- und Logistikzentren. Daraus resultiert eine Notwendigkeit, sich intensiver mit Daten unterschiedlicher Art, die aus diversen Quellen stammen können, zu beschäftigen. Nur so lässt sich eine Anlage zielgerichtet, sinnvoll, nachhaltig und gemäß den tatsächlichen Bedürfnissen des Betreibers planen und schlussendlich auch realisieren. Wie kommen wir zu verlässlichen Daten? Markus Klug: Wir müssen verstärkt synthetische Daten gewinnen und nutzen. Was verstehen Sie unter synthetischen Daten? Markus Klug: Lassen Sie mich dies am Beispiel Homeoffice und dessen Auswirkungen auf die Logistik erläutern. Zur Eindämmung der Corona-Infektionszahlen wurden unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. Viele dieser Maßnahmen zielten darauf ab, die Kontaktmöglichkeiten der Bevölkerung einzuschränken. DIE PLANUNG VON LAGER- UND MATERIALFLUSSSYSTEMEN ERFORDERT EINEN WEITER GEHENDEN ANSATZ Entsprechende Konzepte seitens der Arbeitgeber sahen dann zum Beispiel die Verlagerung von beruflichen Tätigkeiten ins Homeoffice vor. Für die Personen im Homeoffice entfiel der tägliche Weg zur Arbeit; mit den entsprechenden Folgen auf die Kundenfrequenz in den Geschäften der Städte und die Verlagerung in Richtung E-Commerce. Die dahinterstehenden Auswirkungen auf unser Geschäft als Intralogistiksystemanbieter beginnen wir erst allmählich zu verstehen. Die Ursache hierfür sehe ich darin, dass einem Logistiker nicht die Geschäfts- und Kundenfrequenzdaten vorliegen. Gemeinsam mit dem Anlagenbetreiber müssen wir lernen, diese Systematik zu verstehen und dann in neue Datenmodelle, auf Basis dieser 22 f+h 2022/09 www.foerdern-und-heben.de
TITELSTORY PERSPEKTIVEN semantischen Informationen, einfließen lassen. Und das Beispiel Homeoffice ist ja nur eines von vielen, das Einfluss auf das Geschäft unserer Kunden hat. Dem Nutzwert der aus diesen Datenräumen und Datenkreisen resultierenden semantischen, logischen Zusammenhänge, hervorgerufen durch die Kombination vieler Daten, müssen wir uns bewusst werden. Was die Auswirkungen von Homeoffice auf das Geschäftsleben anbetrifft, fällt mir eine alteingesessene Wäscherei in meinem Wohnort ein. Der Betrieb hatte in den vergangenen Jahren wirtschaftliche Probleme. Hervorgerufen wurden diese Schwierigkeiten unter anderem dadurch, dass ein Großteil der Kundschaft wegfiel, die zum Beispiel in der Vergangenheit ihre Hemden dort bügeln ließ. Markus Klug: Das ist genau das, was ich mit Datenräumen und Datenkreisen meine. Wir müssen über unser klassisches Logistikverständnis hinausgehen und auch die Erkenntnisse wie diejenigen aus Ihrem Beispiel in unsere Überlegungen integrieren. Sind die so entstehenden Modelle nur für ein Kundenprojekt oder auch für weitere Projekte nutzbar? Markus Klug: Viele Lager sind Unikate. Das heißt, der Modelltransfer von einem Lager auf das andere ist dadurch nicht immer möglich. Nehmen wir als Beispiel ein Unternehmen aus dem Bereich Automotiv. Aufgrund der unterschiedlichen Produktcharakteristiken, Anzahl der Fahrzeuge, die gebaut werden, Prozessschritte und so weiter sind damit auch die dahinter liegenden operativen Modelle individuell zu gestalten, individuell zu parametrieren und zu optimieren. Und vor allem auch immer wieder für Machine-Learning-Ansätze neu zu trainieren. Dies unter anderem vor dem Hintergrund, dass viele Anlagenbetreiber mittlerweile intelligente Sales-Prediction-Modelle nutzen, die entsprechend auf die Konzeption von Lager- und Materialflusssystemen ausstrahlen. Mithilfe dieser 01 Intralogistiksysteme werden immer komplexer. Eine Lagerverwaltungssoftware wie Wamas wächst mit den Anforderungen und bietet dem Anlagenbetreiber damit Zukunftssicherheit Daten können wir die Systemauslegung immer besser auf das Kundenbedürfnis ausrichten. Um auf Ihre Frage zurückzukommen: das ist dann eine Individualisierung, die wir nicht sofort auf ein anderes Lager ausrollen können. Dies allein schon deshalb, weil in den jeweiligen Projekten auch die technischen Rahmenbedingungen der Automatisierung unterschiedlich sind. Welche Rolle spielt in dem Kontext die Vernetzung der Datenquellen? Markus Klug: Die Vernetzung der Datenquellen ist absolut notwendig. Weil wir diese semantischen Modelle auch immer wieder validieren müssen. Lassen Sie mich dies am Beispiel der Kreditkrise im Jahr 2008 verdeutlichen. Zu dem Zeitpunkt war für die Banken Basel II in Kraft. Das heißt, die Banken mussten vor jeder Kreditvergabe vor allem bei Unternehmen eine individuelle Einschätzung der Bonität auf Basis von Ranking-Systemen vornehmen. Ziel ist es, das Risiko der Insolvenz der Finanzinstitute zu reduzieren. Die Modelle zur Bewertung hat man damals lokal in der Bank entwickelt und dann gegen die Modelle der großen Rating-Agenturen getestet, welche sich im Jahr 2008 mit Island als nicht zuverlässig genug herausgestellt hatten. Im übertragenen Sinn müssen wir in der Logistik diesen Weg ebenfalls einschlagen. Wenn wir ein auf synthetischen Logistikdaten basierendes Modell entwickeln, dann müssen wir dieses Modell idealerweise durch andere unabhängige Ansätze testen, validieren und verifizieren. Nur so lassen sich Risiken vermeiden. Und ferner durch die Vernetzung der Daten auch plausibilisieren, damit wir sichergehen können, dass die Planungsgrundlage für ein Intralogistiksystem verlässlich ist. www.foerdern-und-heben.de f+h 2022/09 23
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