FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG WIE EINHEITLICHE BEWEGUNGSKOORDINATION FÜR FTF DIE INTEGRATION PROPRIETÄRER FTS-LÖSUNGEN ERMÖGLICHT EIN BEITRAG FÜR DIE ZUKÜNFTIGE VERNETZTE INTRALOGISTIK Unter anderem aufgrund von sich verändernden Kundenbedürfnissen steht die Produktionslogistik vor großen Herausforderungen. Eine Antwort darauf möchte das Institut für Fördertechnik und Logistik (IFT) der Universität Stuttgart mit dem Konzept einer wandelbaren und von hochdynamischen Warenströmen geprägten Produktion geben, in der fahrerlose Transportsysteme (FTS) eine wichtige Rolle spielen. Einheitliche Bewegungskoordination für fahrerlose Transportfahrzeuge (FTF) ermöglicht die Integration unterschiedlicher proprietärer FTS-Lösungen. Die Folgen kontinuierlicher Innovation und Entwicklung neuer kundenspezifischer Produkte sind Herstellungsprozesse, die von kurzen Produktionszyklen und variantenreichen Produkten geprägt sind. Klassische Fertigungs- und Montageanlagen, die auf starr verketteten Produktionskonzepten aufbauen und häufig durch stationäre, immobile Stetigförderer gekennzeichnet sind, stoßen hier an ihre Grenzen. Die Integration neuer Produkte wird erst mithilfe von aufwendigen Umbaumaßnahmen oder einer Neuinstallation der Produktionsanlagen ermöglicht. Hier kommen fahrerlose Transportfahrzeuge (FTF) ins Spiel, die sich bei der Vernetzung der Fertigungsund Montageanlagen flexibel einsetzen lassen. Sie sind zentraler Bestandteil anpassungs- und wandlungsfähiger Produktionsund Logistiksysteme. Die Nachfrage nach solchen Systemlösungen ist aktuell hoch. Damit auch unterschiedliche proprietäre FTS-Lösungen zukünftig in Produktion und Logistik integriert werden können, bedarf es einer Vernetzung der fahrerlosen Fahrzeuge auch auf Hardwareebene. Voraussetzung hierfür ist, dass jedes Fahrzeug auf Fahrwerksebene mit der Ansteuerung der einzelnen Motoren betrachtet wird. Mithilfe dieser Vernetzung lassen sich diverse Fahrzeuge, welche aufgrund spezifischer Fahrwerkskonzepte unterschiedlich manövrieren müssen, einheitlich ansteuern und bei der Pfadplanung optimal berücksichtigen [1]. Den Einfluss unterschiedlicher Fahrwerkskonzepte von fahrerlosen Transportfahrzeugen zeigt Bild 01. Im Fall a) parkt das Fahrzeug mit der starren Hinterachse ein, wobei dieses Verhalten vom seitlichen Einparken bei Pkw bekannt ist (Achsschenkellenkung). Dagegen manövriert das Fahrzeug in Fall b), aufgebaut aus zwei starren Rädern, welche unterschiedliche Geschwindigkeitsvorgaben erhalten, anhand zweier Drehungen in die Park lücke (Differenzialantrieb). Das Fahrzeug in Fall c) mit Mecanum-Rädern kann hingegen direkt in die aufgezeigte Lücke einparken, ohne komplexe Parkmanöver ausführen zu müssen [2]. EINHEITLICHE SCHNITTSTELLEN ERFORDERLICH Die Interoperabilität dieser gezeigten verschiedenen Fahrzeuge bedingt eine einheitliche Ansteuerung, welche bereits die Kinematik des Fahrzeugs berücksichtigt. Dabei kann auch zum Beispiel die Pfadplanung in Kreuzungssituationen einbezogen werden. Außerdem sollen nicht nur einzelne fahrerlose Transportfahrzeuge dadurch besser interagieren können, sondern es soll auch die Möglichkeit geschaffen werden, in einem Fahrzeugverbund gemeinsam Transportaufgaben auszuführen. Hierfür wird eine Interoperabilität auf Fahrzeugebene benötigt, sodass die verschiedenen Fahrzeuge untereinander kompatibel und unabhängig von der Fahrwerkskonfiguration sind. Eine auf diesen Anforderungen beruhende einheitliche Schnittstelle soll folglich für verschiedene Fahrzeugtypen eingesetzt werden können, um das Ziel der Vernetzung von einzelnen Fahrzeugen sowie in einem Fahrzeugverbund zu ermöglichen [1]. Für die Realisierung dieser Vision forscht das Institut für Fördertechnik und Logistik (IFT) seit mehreren Jahren an einheitlichen Schnittstellen zur Vernetzung der verschiedenen Fahrzeugtypen. Eine dabei entstandene Schnittstelle sorgt dafür, dass die Fahrzeuge auf kinematischer Ebene interagieren. Statt der momentan proprietär bestehenden Ansteuerung der verschiedenen Fahrzeugtypen ist dafür eine einheitliche Basis zur kinematischen Beschreibung jedes beliebigen Fahrzeugtypus‘ auf Grundlage der Omni-Kurven-Parameter entstanden. Diese ist unter anderem unabhängig von der Fahrzeuggeometrie gewählt und bil- 38 f+h 2024/09 www.foerdern-und-heben.de
FORSCHUNG UND ENTWICKLUNG 01 Unterschiedliche Trajektorienplanung beim Einparken von unterschiedlichen Fahrzeugen mit diversen Fahrwerken [2] 01 02 Verlauf der Maximalgeschwindigkeit für das Fahrzeug Scooty. Für das Fahrzeug nicht mögliche Konfigurationen sind in schwarz gekennzeichnet. Die Konfiguration ist in den Omni-Kurven-Parametern nominelle Krümmung k n und Schwimmwinkel b abgebildet. In diesem Parameterraum lässt sich der ganze Bewegungsraum des Fahrzeugs ohne großen Rechenaufwand abbilden [3] det die Bewegungsmöglichkeiten der verschiedenen Fahrzeugtypen ohne Singularitäten ab [1]. Dadurch kann eine Interaktion auf kinematischer Ebene über die Systemgrenzen der einzelnen Fahrzeuge hinweg entstehen. Verschiedene Fahrzeugtypen müssen hierfür nicht mehr einzeln modelliert und betrachtet werden, sondern lassen sich intuitiv anhand dieser Schnittstelle ansteuern [3]. Die erste Umsetzung dieser Steuerungsstruktur, welche sich einem universellen Modell annähert, wurde in der f+h 10/2022 am Beispiel des FTF „Scooty“ bereits vorgestellt. Basierend auf dieser Ansteuerung leitet sich die Bewegungskoordination mit den einheitlichen Schnittstellen ab. Dementsprechend ist eine Ansteuerung zur einheitlichen Bewegungskoordination für verschiedene Fahrzeugtypen am IFT entstanden und wurde in [1] vorgestellt. Dabei können bestehende Bewegungskoordinationsvorgabemöglichkeiten wie im Falle einer manuellen Handsteuerung oder automatisierter Ansteuerungsverfahren weiterhin verwendet werden. Diese Bewegungskoordination wurde am IFT bereits in verschiedenen Fahrzeugtypen entsprechend eingesetzt und evaluiert. So können dort die Fahrzeuge Scooty zum Beispiel gemeinsam Transportaufgaben übernehmen [1]. FAHRDYNAMISCHE GRENZEN ÜBEREINSTIMMEND FORMULIEREN Wird eine einheitliche Basis zur Ansteuerung verschiedener Fahrzeugtypen verwendet, müssen die verschiedenen fahrdynamischen Grenzen, welche durch Lenkeinschläge und Fahrwerkseigenschaften bestehen, ebenfalls einheitlich formuliert werden. Dadurch liegt eine konsistente Beschreibung der verschiedenen Fahrwerke vor und die Gewährleistung einer einheitlichen Interoperabilität ist gegeben. Die Gestaltung dieser Interoperabilität im Kontext einer einheitlichen Schnittstelle auf Navigations- und Pfadplanungsebene, unter Berücksichtigung der fahrdynamischen Grenzen für individuelle Fahrzeuge, konnte ebenfalls am IFT gelöst werden [1]. Auf Basis der Omni-Kurven-Parameter lassen sich die Grenzflächen abbilden. Sie beschreiben den Konfigurationsraum individuell und bringen eine einfache Vergleichbarkeit für die Pfadplanung und die Navigation mit sich. Auch für den Verbundtransport ist die Betrachtung des Konfigurationsraums aufgezeigt und lässt sich somit individuell für jeden Verbund- und Fahrzeugtyp einsetzen [3]. Solch eine Beispielfläche für das Fahrzeug Scooty mit einem maximalen Lenkwinkel von 155° zeigt Bild 02. Mithilfe von vier Fahr-Lenkantrieben kann sich Scooty omnidirektional bewegen. Dabei können die maximalen Geschwindigkeiten des Fahrzeugs sowie die in schwarz gekennzeichneten, für das Fahrzeug nicht anzusteuernden, Bereiche ermittelt werden. Durch die Verwendung der vorgestellten Omni-Kurven-Parameter geschieht die Beschreibung verschiedener Fahrwerke konsistent, und damit ist eine Interoperabilität auf einer einheitlichen Basis gegeben [1]. Die Kommunikation und Vernetzung unterschiedlicher und auch gleicher Fahrzeuge wird im Projekt „Coop AGV“ [4] untersucht, wobei ein einheitliches Kommunikationsmodell entsteht [5]. Einzig mithilfe von Softwareanpassungen können Fahrzeuge anhand des beschriebenen Ansatzes intuitiv und einfach einheitlich angesteuert werden und eine Vernetzung beliebiger Fahrzeugtypen ist möglich. Das Anwendungspotenzial reicht dabei von automatisierten bis zu nichtautomatisierten mehrachsigen Fahrzeugen, welche intuitiv im Verbund und einzeln manövriert werden können [1]. Literaturhinweise und Quellenangaben: [1] Brenner, C. (2024). Interoperabilität beliebiger fahrerloser Transportfahrzeuge durch eine einheitliche Bewegungskoordination für die zukünftige vernetzte Intralogistik. Stuttgart : Institut für Fördertechnik und Logistik der Universität Stuttgart. (http://dx.doi.org/10.18419/opus-14520) [2] Brenner, C.; Colomb, A. (2022). Anwendung der Omni-Kurven-Parameter zur Bestimmung der Aktor-Stellgrößen und universellen Bewertung der Bewegungsmöglichkeiten unterschiedlicher Fahrwerke. Logistics Journal: Proceedings, Vol. 2022. (urn:nbn:de:0009-14-55825) [3] Colomb, A.; Brenner, C. (2020). Konzept zur intuitiven Steuerung omnidirektionaler Flurförderzeuge mit beliebiger Radkonfiguration. Logistics Journal: Proceedings, Vol. 2020. (urn:nbn:de:0009-14-51330) [4] https://www.icm-bw.de/forschung/projektuebersicht/detailseite/ indu4-coop-agv [5] Brenner, C.; Enke, C.; Schumacher, P.; Schröppel, M.; Schulz, R.; Furmans, K. (2023). Decentralized Collaborative Transport in Heterogeneous Robot Fleets Through Four Levels of Communication based on Omni-Curve-Parameters. Logistics Journal: Proceedings, Vol. 2023. (urn:nbn:de:0009-14-58161) Autoren: Carolin Brenner, M.Sc., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Fördertechnik und Logistik, Universität Stuttgart Prof. Dr.-Ing. Robert Schulz, Professor für Technische Logistik und Leiter des Instituts für Fördertechnik und Logistik, Universität Stuttgart Foto/Grafiken: Autoren www.ift.uni-stuttgart.de 02 www.foerdern-und-heben.de f+h 2024/09 39
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